Samstag, 1. März 2014

Minimal-Bewusstsein

Koma-Patienten mit Minimal-Bewussstsein!


http://www.medscapemedizin.de/artikel/4901728?src=stfb

Leider funktioniert der Link nicht richtig, deshalb kopiere ich den Artikel hier her:


Eine gewisse Unsicherheit bleibt – wie wach ist ein Komapatient?

Michael Simm | 11. Dezember 2013
San Diego – Inwieweit sind Patienten, von denen es heißt, sie lägen „im Koma“, tatsächlich völlig komatös, also ohne jedes Bewusstsein? Die Fehlerrate bei der Evaluation von Patienten mit eingeschränktem Bewusstsein liegt bei bis zu 40%. So lautete die beunruhigende Einschätzung mehrerer Wissenschaftler auf der Jahrestagung der International Neuroethics Society in San Diego [1].
Auf einem Symposium wurden dort zu diesem Thema neuere Studien präsentiert, in denen mit bildgebenden Verfahren bei einem kleinen Anteil von Patienten im so genannten vegetativen oder minimal-bewussten Zustand Anzeichen dafür entdeckt wurden, dass sie zumindest vorübergehend Umgebungsreize wahrnehmen können. In seltenen Fällen waren diese Patienten sogar in der Lage, auf Ja-Nein-Fragen zu antworten.
Prof. Dr. Jens Clausen vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen zeigte sich von den ernsten und sachkundigen Beiträgen seiner Kollegen beeindruckt. „Das Hirn hat erfreulicherweise eine große Kapazität, sich zu regenerieren“, stellte er als Moderator der Veranstaltung fest. Bei der Klassifizierung der Bewusstseinszustände sieht der Philosoph und Biologe zwar eindeutige Fortschritte aber: „Angesichts der ebenso komplexen wie komplizierten Sachverhalte darf man allerdings keine einfachen Lösungen erwarten.“
„Das Hirn hat erfreulicherweise
eine große Kapazität, sich zu regenerieren.“
Prof. Dr. Jens Clausen
Das bestätigte die Tagung in San Diego zwar, aber der Bedarf an Lösungen steigt. Denn dank Reanimation und Intensivmedizin überleben immer mehr Patienten im Koma, erklärte Prof. Dr. John Pickard. Er beschäftigt sich mit seinen Mitarbeitern am Wolfson Brain Imaging Centre der University of Cambridge intensiv mit dem vegetativen Stadium (vegetative state, VS). Es handelt sich dabei um einen Zustand, in dem Patienten, die aus dem Koma entrinnen, einerseits wach erscheinen, andererseits aber dennoch keine Hinweise dafür liefern, dass ihre Wahrnehmung („awareness“) funktioniert.
Offenbar nehmen die Patienten aber dennoch wahr. Das vegetative Stadium sei eine der am wenigsten verstandenen und aus ethischer Sicht schwierigsten Konditionen in der modernen Medizin, hieß es in San Diego. Die Inzidenz steigt an und beträgt in Europa derzeit zwischen 0,5 und 2 Fälle pro 100.000 Einwohner und Jahr. Zwei Drittel davon entwickeln sich aufgrund einer Anoxie oder Hypoxie nach einer Reanimation, der Rest ist eine Folge von Unfällen.
Verstehen und Vorstellungen produzieren – trotz eingeschränktem Bewusstsein?
„Das größte Problem ist die Unsicherheit”, so Pickard. Obwohl die Diagnose des VS maßgeblich davon abhängt, dass es unter externer Stimulation keinen reproduzierbaren Beweis für zielgerichtetes Verhalten gibt, scheint es bei einem kleinen Prozentsatz dieser Patienten „Inseln“ zu geben, in denen Hirnfunktionen bewahrt geblieben sind, erinnerte Pickard [2].
Der Neurowissenschaftler hatte bereits im Jahr 2006 über eine 23-jährige Frau berichtet, die auch 5 Monate nach einem Unfall mit schwerem Hirntrauma bei der Diagnose durch ein multidisziplinäres Team alle Kriterien des VS erfüllte. In der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) zeigte diese Frau indes eindeutig unterschiedliche Aktivierungsmuster bei einfachen Geräuschen gegenüber gesprochenen Sätzen. In ihren Reaktionen war die Patientin diesbezüglich nicht von gesunden Probanden zu unterscheiden [3].
Weil auch diese Befunde noch nicht als eindeutiger Nachweis für eine bewusste Wahrnehmung gewertet wurden, unternahmen Pickard und seine Mitarbeiter eine zweite Studie. Hier wurde die gleiche Patientin sprachlich instruiert, sich entweder beim Tennisspielen vorzustellen, oder beim Gang durch alle Räume ihres Hauses. Im ersten Szenario konnte man danach eine Aktivierung supplementär-motorischer Hirnareale nachweisen.
Im zweiten Szenario wurden der parahippocampale Gyrus aktiv sowie der posteriore parietale Kortex und der laterale prämotorische Kortex. Die beiden neuronalen Erregungsmuster, bei der Vorstellung des Tennisspiels einerseits und derjenigen des Herumgehens im Haus andererseits, waren somit im Gehirn klar voneinander zu trennen – und im Übrigen nicht zu unterscheiden von den Aktivierungsmustern gesunder Probanden.
Obwohl diese Patientin also die Kriterien für eine Diagnose des VS erfüllte, war ihr die Fähigkeit erhalten geblieben, sprachliche Anweisungen zu verstehen und durch die willentliche Aktivierung diskreter Hirnareale auch zu beantworten. „Das lässt keinen Zweifel daran, dass diese Patientin sich ihrer selbst und ihrer Umgebung bewusst war“, so Pickard.
Der Umkehrschluss ist allerdings nicht zulässig: Auch Patienten, die es in solch einem Test nicht schaffen, willentlich verschiedene Hirnareale zu aktivieren, könnten zur Wahrnehmung fähig sein, erläuterte Pickard. Falsch negative Befunde bei bildgebenden Untersuchungen seien häufig, sogar bei Gesunden.
Wie misst man, wie viel Bewusstsein noch verblieben ist?
Bildgebende Verfahren können demnach die Unsicherheit bei der Diagnose verringern, vermutlich aber niemals ganz beseitigen, so der Konsens auf der Tagung in San Diego. Einen Versuch, die Fehlerrate zu quantifizieren, haben Neurologen um Prof. Dr. Steven Laurys von der Coma Science Group des Cyclotron Research Center der Universität Liège in Belgien unternommen. Sie folgten 103 Patienten, die von einem Ärzteteam entweder die Diagnose vegetatives Stadium oder  „minimal-bewusst“ (minimally conscious state, MCS) erhalten hatten.
„Das lässt keinen Zweifel daran, dass diese Patientin (im vegetativen Zustand) sich ihrer selbst und ihrer Umgebung bewusst war.“
Prof. Dr. John Pickard
Beim minimal bewussten Stadium geht man davon aus, dass noch klarer und öfter als im vegetativen Stadium fluktuierend ein Auftauchen aus dem völligen Fehlen jeglichen Bewusstseins eines komatösen Zustandes möglich ist. Alle Patienten wurden durch Laurys´ Team nachuntersucht und anhand der Coma Recovery Scale-Revised (CRS-R) klassifiziert.
Dabei erwiesen sich 18 von 44 ursprünglich als VS diagnostizierte Patienten als noch minimal-bewusst, was einer Fehlerrate von 41% entspricht. Unter 41 Patienten mit MCS waren am Ende der Beobachtungszeit 4 aus diesem Zustand erwacht. Die Untersuchung ergab außerdem, dass 89% derjenigen, deren Koma-Diagnose anfänglich unklar blieb, gemäß dem Kriterienkatalog der CRS-R als minimal-bewusst eingestuft werden sollten.
Mit Verweis auf frühere Untersuchungen beklagen die Forscher, dass sich der Anteil an Fehldiagnosen des VS über 15 Jahre hinweg kaum verändert habe. Sie plädieren deshalb für den Gebrauch der auch von ihnen benutzten neurologisch- und verhaltensbasierten Skala CRS-R [4].
Tatsächlich ist die Vielzahl von Untersuchungsverfahren mit Schuld an den oft diskordanten Befunden, glaubt Pickard. Diese Unsicherheit lasse sich jedoch nicht beseitigen, indem man sich auf eine bestimmte Methode festlegt. „Schwere Hirnverletzungen sind nicht statisch“, erklärte dazu Prof. Dr. Joseph Fins, Leiter der Abteilung Medizinische Ethik am Weill Cornell Medical College. Zur Diagnose seien Fragebögen zur Erhebung des neurologischen Zustands besser geeignet als bildgebende Verfahren.
Dennoch sind diese Methoden von unschätzbarem Wert, denn sie bieten zumindest einem Teil der vegetativen und minimal-bewussten Patienten eine Möglichkeit, mit ihren Gedanken zu kommunizieren, indem die Kranken ihre neurale Aktivität gezielt verändern. Man habe damit einen Kommunikationskanal geöffnet, sagte Fins. Zugleich warnte der Psychiater vor Fehldeutungen: Die Kommunikation mithilfe bildgebender Verfahren sei einer sehr schlechten Telefonverbindung vergleichbar – mit Störungen, Unterbrechungen und der Gefahr von Missverständnissen.
Den Nutzen der Bildgebung abzuschätzen, erlaubt eine Untersuchung, die von den Teams um Laurys und Pickard bereits im Jahr 2010 veröffentlicht wurde [5]. Eingeschlossen wurden hier 54 Patienten mit Störungen des Bewusstseins (23 VS und 31 MCS) aus den Referenzzentren in Liège und Cambridge. Getestet wurde in erster Linie, ob diese Patienten in der Lage waren, verlässlich und mehrfach die Aktivitäten ihrer Hirne zu modulieren, sodass dies in der fMRT nachweisbar war.
Wahrnehmungskorrelate in der funktionellen Magnetresonanztomografie
Dies gelang tatsächlich 5 der 54 Patienten. Bei 3 der 5 stellten die Ärzte bei weiteren Tests am Krankenbett fest, dass sie zumindest ansatzweise ihre Umgebung wahrnahmen, bei den anderen beiden gelang dies nicht. Die ursprünglich von Pickard entwickelte Methode zur willentlichen Erzeugung unterschiedlicher Hirnaktivitätsmuster bewältigte jedoch nur ein einziger Patient.
Da die fMRI teuer und nicht generell verfügbar ist, hat das gleiche Team überprüft, ob das Prinzip der „mental imagery“, der Erkennung von Vorstellungskorrelaten im Gehirn, auch unter Einsatz eines einfachen EEG funktioniert. Hierfür  wurden 16 Patienten im VS aufgefordert, sich Bewegungen der rechten Hand oder der Zehen vorzustellen – eine Aufgabe, die immerhin 3 dieser Patienten wiederholt und zuverlässig bewältigten [6].

Prof. Dr. Nicholas D. Schiff vom Weill Cornell Medical College verwies auf den jüngsten und bislang wohl ambitioniertesten Beitrag der Hirnforschung zur Klassifizierung unterschiedlicher Bewusstseinszustände: Wie Schiff berichtete, haben Wissenschaftler von der Universität in Mailand einen auf theoretischen Überlegungen basierenden Index entwickelt, der die Reaktion des Gehirns auf Störungen quantifizieren soll (perturbational complexity index, PCI).
„Schwere Hirn-
verletzungen sind nicht statisch.“
Prof. Dr. Joseph Fins
Der PCI beruht darauf, dass zunächst die Aktivität des Kortex mittels transkranieller Hirnstimulation (TMS) gestört wird. Nach diesem „Anstoß“ erfasst man die räumlich-zeitlichen Muster der elektrokortikalen Reaktion per EEG und bestimmt als Maß für deren Komplexität den Informationsgehalt. Dieses Paradigma wurde an einem großen Datensatz von TMS-evozierten Potenzialen überprüft, die sowohl von Gesunden stammten, als auch von Patienten, die dem Koma entronnen waren und zum Beispiel als VS oder MCS diagnostiziert wurden.
Wie Casali und Kollegen berichten, konnte der PCI den Bewusstseinszustand bei einzelnen Individuen zuverlässig unterscheiden, sowohl im wachen Zustand, als auch im Schlaf und unter Betäubung. Bei den 20 hirnverletzten Teilnehmern der Studie fand sich ein gradueller Anstieg der PCI-Werte von Patienten, je nach Schwere der Diagnose. „Der PCI eignet sich möglicherweise für eine objektive Bestimmung der Bewusstseinsebene am Krankenbett“, schreiben deshalb die Wissenschaftler [7].


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen